SHIRIN DAMERJI
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ASTRID AUF WACKLIGEN BEINEN
Shirin Damerji – Astrid auf wackligen Beinen
Shirin Damerjis aktuelle Ausstellung in der Galerie Françoise Heitsch ist ihrer Mutter Astrid gewidmet. Schon seit einigen Jahren stellt die Künstlerin immer wieder bereits verstorbene Menschen aus ihrem direkten Umfeld ins Zentrum ihrer Arbeiten – „Porträts in Abwesenheit“ nennt sie diese. Der neue Werkzyklus, der eine Vielzahl von Medien sowie Techniken vereint, kreist nun also um die Person ihrer Mutter und um die eigene Beziehung zu dieser.
Die Fotoserie „Astrid auf wackligen Beinen“ erzählt ein Leben in Objekten. Für die Fotoarbeiten stapelt die Künstlerin unterschiedlichste Gegenstände aus dem Nachlass ihrer Mutter zu fragilen Materialassemblagen. Tasse um Tasse, Vase um Nippesfigur wachsen grazile Türme in die Höhe, die wirken, als könnte jeder Windstoß, jede zu starke Erschütterung sie aus dem Gleichgewicht und damit zum Einsturz bringen. Der Herstellungsprozess der Werke ist für Shirin Damerji eine emotionale Gratwanderung zwischen lebensbejahender, berauschender Anspannung ob der riskanten Konstruktionsweise und dem möglichen Verlust der zerbrechlichen Erbstücke. Die Objekte – ein in Antiquitätenläden über Jahrzehnte zusammengetragenes Potpourri aus handbemalten Tassen, Porzellanfiguren, englischem Teesilber und dekorativen Vasen – sind mehr als nur stumme Zeugen eines bewegten Lebens. Sie berichten vielmehr vom Wesen ihrer vormaligen Besitzerin: von ihrem Sinn für Ästhetik, von ihrer fast obsessiven Sammelleidenschaft, von ihrem Wunsch nach einem bürgerlichen Dasein. Mehr über den Charakter ihrer Mutter erzählt uns dann die Künstlerin durch die Produktionsweise der Arbeiten. Im wackeligen Prozess des Stapelns spiegelt sich deren Wagnisbereitschaft, ihr Mut, vielleicht auch ein bisschen ihr Leichtsinn. Und so lassen sich die hochgewachsenen Säulen wie ein Porträt von Astrid lesen – eines in Abwesenheit eben.
Die Gegenstände aus den Säulen finden wir auch in einer großformatigen Tuschearbeit wieder. Diese zeigt Astrids Wohnung, die ihre Tochter unmittelbar nach deren Tod fotografisch festgehalten hat. Alles ist noch genau so, wie ihre Mutter es einst mit großer Akribie angeordnet hatte: eine Interieuransicht mit Biedermeier-Ensemble, Stäbchenparkett, Orientteppich und Zimmerpflanze. Auf dem Tisch sind die Objekte aus den Fotostillleben zu einer feinsinnigen Komposition arrangiert. Die 240 x 170 cm große Tuschearbeit besteht aus einer Vielzahl kleinerer Zeichnungen, die erst zusammengenommen ein Gesamtbild ergeben. Es scheint, als würde Shirin Damerji hier buchstäblich die Teile eines Lebens mosaiksteinhaft zusammenfügen. Jedes Einzelblatt basiert auf einem Ausschnitt der Fotografie. Zunächst überträgt die Künstlerin den Motivausschnitt als Vorzeichnung auf das Blatt und klebt diese Vorzeichnung dann stellenweise mit Tape ab. Anschließend besprenkelt sie die Bilder mit Tusche, das Endergebnis wird erst nach dem Entfernen des Tapes sichtbar. Wie schon bei „Astrid auf wackligen Beinen“ ist der künstlerische Arbeitsprozess auch beim „Interieur“ eine Mischung aus Kontrolle und Loslassen, aus Planung und Zufall.
Während die besprochenen Arbeiten über materielle Dinge als Stellvertreter:innen und aus der Perspektive der erwachsenen Tochter erzählt werden, rückt in anderen Werken der Ausstellung eher die physische Präsenz der Mutter sowie die kindliche Wahrnehmung der Künstlerin in den Vordergrund.
Die Arbeit „Hand und Hände“ thematisiert die sinnliche Erfahrung von (ersten) Berührungen. Weiße Porzellanhände – zunächst in Ton modelliert und dann aus Porzellan in Hohlform gefertigt – verwandeln sich durch LEDs zu Leuchtobjekten. Das sanfte Leuchten der Handflächen macht die Wärme der Berührung optisch erlebbar. Was erzählen uns Hände über einen Menschen? Ihre Form, ihr Druck, die Textur der Haut, die Spuren, die sie tragen. So erinnert sich Shirin Damerji an die Zartheit der mütterlichen Hände, die so ganz anders waren als ihre eigenen, und an den schwachen Druck, der ihr immer auch die Sensibilität der Mutter vor Augen führte.
In der Graphitzeichnung „Porträt mit Gläser-Krone“ begegnen wir schließlich einer Darstellung von Astrid. Das Porträt entstand sowohl nach einer Fotovorlage als auch aus dem Gedächtnis der Künstlerin; hier verschmelzen emotionale Erinnerung und kontrastreiche Schwarz-Weiß-Kopie zu einem fein ausgeführten Frauenporträt voller Licht und Schatten. Auf dem Kopf trägt Astrid eine Krone aus Gläsern, die Shirin Damerji nach einer von ihr angefertigten Gläserskulptur gestaltet hat. Die Krone aus Trinkgläsern betont die verspielte, lebensfrohe Seite der Mutter und verleiht ihr eine majestätische und zugleich variétéhaft wirkende Aura. Wie schon bei „Astrid auf wackligen Beinen“ wird hier ein Balanceakt bildhaft dargestellt, der ein fragiles Gleichgewicht bewahren soll. Für Shirin Damerji ist das Bild eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und der Bedeutung der Mutterfigur. Das große Format spiegelt die kindliche Wahrnehmung der Mutter wider, die in ihrer Körperlichkeit und Bedeutung eine absolute, überdimensionale Rolle einnimmt. Gleichzeitig bezieht sich die Künstlerin auf altmeisterliche Porträts, insbesondere auf Rembrandts berühmte Zeichnung seiner Mutter, von der eine Reproduktion in ihrem Kindheitszuhause hing. Die Zeichnung weckte eine kindliche Neugier, warum die junge Mutter Gefallen an einer „runzligen“ alten Frau fand. Astrids Interesse prägte auch ihre Tochter und lenkte deren Blick auf das weibliche Altern. Auf poetische Weise vereinen sich in Astrids Porträt also Motive wie Zerbrechlichkeit, Balance, Wagnis, Geborgenheit und Lebensspuren, die sich – auf die eine oder andere Weise – wie ein roter Faden durch alle Arbeiten der Ausstellung ziehen.
Cordula Schütz
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Shirin Damerji – Astrid auf wackligen Beinen
Shirin Damerji's current exhibition at Galerie Françoise Heitsch is dedicated to her mother Astrid. For several years now, the artist has repeatedly placed deceased people from her immediate surroundings at the center of her works – she calls them “portraits in absentia”. The new cycle of works, which combines a variety of media and techniques, now revolves around the person of her mother and her own relationship with her.
The photo series “Astrid on wobbly legs” tells the story of a life in objects. For the photographic works, the artist stacks a wide variety of objects from her mother's estate to create fragile material assemblages. Cup after cup, vase after decorative figurine, graceful towers grow upwards, appearing as if any gust of wind or excessive shock could cause them to lose their balance and collapse. For Shirin Damerji, the process of making the works is an emotional balancing act between the life-affirming, exhilarating tension of the risky construction method and the possible loss of the fragile heirlooms. The objects – a potpourri of hand-painted cups, porcelain figurines, English tea silver and decorative vases collected over decades in antique stores – are more than just silent witnesses to an eventful life. Rather, they tell of the nature of their former owner: of her sense of aesthetics, of her almost obsessive passion for collecting, of her desire for a bourgeois life. The artist then tells us more about her mother's character through the way the works are produced. The wobbly process of stacking reflects her willingness to take risks, her courage, perhaps even a little of her recklessness. And so the tall columns can be read like a portrait of Astrid – one in absentia.
The objects from the columns can also be found in a large-format ink work. This shows Astrid's apartment, which her daughter photographed immediately after her death. Everything is still exactly as her mother had once meticulously arranged it: an interior view with a Biedermeier ensemble, strip parquet flooring, oriental carpet and houseplant. The objects from the photographic still lifes are arranged on the table to form a subtle composition. The 240 x 170 cm ink work consists of a large number of smaller drawings that only form an overall picture when taken together. It seems as if Shirin Damerji is literally putting the pieces of a life together like a mosaic. Each individual sheet is based on a section of the photograph. First, the artist transfers the motif section onto the sheet as a preliminary drawing and then sticks this preliminary drawing down in places with tape. She then sprinkles the images with ink, the final result only becoming visible after the tape has been removed. As with “Astrid auf wackligen Beinen”, the artistic working process in “Interieur” is also a mixture of control and letting go, of planning and chance.
While the works discussed are told through material things as representatives and from the perspective of the adult daughter, other works in the exhibition focus more on the physical presence of the mother and the childlike perception of the artist.
The work “Hand und Hände” addresses the sensual experience of (first) touches. White porcelain hands – first modeled in clay and then made of porcelain in a hollow form – are transformed into luminous objects by LEDs. The soft glow of the palms makes the warmth of touch visually tangible. What do hands tell us about a person? Their shape, their pressure, the texture of the skin, the marks they leave. Shirin Damerji remembers the tenderness of her mother's hands, which were so different from her own, and the faint pressure that always made her aware of her mother's sensitivity.
In the graphite drawing “Porträt mit Gläser-Krone” we finally encounter a depiction of Astrid. The portrait was created both from a photograph and from the artist's memory; here, emotional memory and a high-contrast black and white copy merge into a finely executed portrait of a woman full of light and shadow. Astrid wears a crown of glasses on her head, which Shirin Damerji designed based on a glass sculpture she made. The crown made of drinking glasses emphasizes the playful, cheerful side of the mother and gives her a majestic and at the same time variable aura. As with “Astrid auf wackligen Beinen”, a balancing act is depicted here that is intended to maintain a fragile equilibrium. For Shirin Damerji, the picture is a personal exploration of growing older and the significance of the mother figure. The large format reflects the childlike perception of the mother, who takes on an absolute, over-dimensional role in her physicality and significance. At the same time, the artist refers to old master portraits, in particular Rembrandt's famous drawing of his mother, a reproduction of which hung in her childhood home. The drawing aroused a childlike curiosity as to why the young mother took a liking to a “wrinkled” old woman. Astrid's interest also influenced her daughter and drew her attention to female ageing. Astrid's portrait thus poetically combines motifs such as fragility, balance, risk, security and traces of life, which – in one way or another – run like a common thread through all the works in the exhibition.
Cordula Schütz
Shirin Damerji
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Biography
HWP-Stipendium des Bayerischen Staatsministeriums für Forschung und Kunst
Stiftung Kunstakademie München: Lothar-Späth-Preis
Solo Exhibitions
Group Exhibitions
B3 Biennale des bewegten Bildes, Frankfurt am Main
"Angewanzt" / BKV, München
"Expedition Medora IX „WIR GEFÜHL“" / MaximiliansForum, München
Videodox / Galerie der Künstler BBK Oberbayern
"Expedition Medora X; Jahresgaben Weltraum" / Kunst am Center for Advanced Studies
Kunstnacht / Neue Galerie Landshut
Editionen 2013 / Neue Galerie Landshut
"The nightingale and the rose" / Kunsthalle Rathausgalerie München
"Story Telling" / White Space, Zürich
"Expedition Medora VII" / Weltraum, München
"Expedition Medora V" / Wittelsbacherplatz, 850 Jahre München
"Transit" / Gedok München – Jahresausstellung
"Expedition Medora VI" / ZKMax, München
"3xMünchen" / Raum 58, München
"Jordanien Your hairlights are so beautiful" / Artothek, München
"plattform-iraqi-youth" / Schrannenhalle, München
"Expedition Medora III" / Kunstarkaden, München
"Reality Crossings" / 2. Internationales Fotofestival Mannheim - Ludwigshafen - Heidelberg, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafe
"Expedition Medora IV" / Galerie Steinle – Villa am Böhmerwaldplatz, München
"Underdoxfestival" / Werkstattkino, München
"Underdox Filmfestival für Dokument und Experiment" / Werkstattkino, München
"Expedition Medora I" / ZKMax, München