CARLOTTA
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BOLD INSIGHT

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Carlotta – Bold insight


Die Künstlerin erzählt über sich


Im Vorschulalter ist mir schon die besondere Fähigkeit meiner Mutter aufgefallen...sie konnte Menschen erkennen und voneinander unterscheiden.
Ich dachte, das werde ich sicher auch irgendwann können, wenn ich erwachsen werde.


Doch in die Schule traf ich auf lauter gleichaltrige, die es schon gelernt hatten Menschen voneinander zu unterscheiden.
Mir gelang das nicht und das führte immer wieder zu peinlichen Situationen. Ich erkannte meine Klassenkameraden auf dem Schulhof nicht, ich erkannte meine Lehrer nicht...


Was damals niemand wusste...ich leide unter Gesichtsblindheit.
Meine Mitmenschen nicht unterscheiden und wiedererkennen zu können, macht mich im Umgang mit Menschen sehr unsicher. Schließlich weiß ich nicht, wen ich vor mir habe, kenne ich diesen Menschen? Und wenn ja, wie gut?
Ist es ein guter Bekannter von mir oder ist das jemand mit dem ich mich nicht so gut verstehe?
Im Laufe der Jahre entwickelte ich eine Strategie....ich präge mir z.B. die Stimme, die Statur, das Gangbild, das Bewegungsmuster und die sehr individuelle Geräuschfahne eines jeden Menschen ein.


Zur Geräuschfahne gehört das hörbare Schrittmuster, die Atmung, das Rascheln der Kleidung, Räuspern, Husten usw.
Denn Gesichter kann ich mir nicht merken.
Wenn ich in ein Gesicht schaue und meine Aufmerksamkeit würde auch nur für einen winzigen Augenblick abgelenkt und ich dann zurück in das Gesicht blickte, so sähe ich es zum allerersten Mal.


Ich weiß natürlich, dass immer noch derselbe Mensch vor mir steht, aber ich kann nicht feststellen, ob sich sein Gesicht verändert hat.
Das führt zu Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion... z.B. wenn ich gute Bekannte auf der Straße nicht erkenne und Grußlos an ihnen vorbei gehe. Wenn ich meinen Arbeitgeber nicht erkenne ...oder meine Nachbarn...
Menschen die nichts von meiner Gesichtsblindheit wissen, könnten mich für unhöflich, launisch, eigenbrötlerisch halten. So muss ich Menschen immer erst erklären, dass ich etwas nicht kann…nämlich sie am Gesicht wiederzuerkennen.


Vielleicht ist deshalb das Hauptthema meiner Arbeiten das Selbstporträt…
Durch die Gesichtsblindheit gibt es für mich die Vorstellung/Erinnerung eines Gesichtes nicht, es gibt immer nur den Versuch einer Annäherung an etwas für mich nicht fassbares, an eine Ahnung, jedoch nie an eine äußere Wirklichkeit.


So ist meine Definition eines Gesichtes, eine andere, als bei meinen Mitmenschen. Für mich ist ein Gesicht etwas, was eine Kopfform hat. Was sich innerhalb dieser Form abspielt ist für mich völlig irrelevant.
Diese Irrelevanz nehme ich zu Hilfe und gestalte die Porträts in ihrem Binnenraum völlig frei, was den Betrachter schließlich in die gleiche Verwirrung (oder auch Befremdung) stürzt, wie ich sie täglich erlebe, wenn ich unter Menschen gehe.


Wie komme ich nun zu meinen Selbstporträts?


Ich nähere mich dem Thema über das haptische Erleben (Eine Hand ertastet das Gesicht, die andere zeichnet parallel dazu das Erfühlte aufs Papier. So ist jede meiner Arbeiten der Versuch einer persönlichen Integration.
Das Paradoxon: Diese Integration kann mir nie gelingen...und das provoziert
eine geradezu manische Arbeitsweise.
Dabei bleibt meine Arbeitsweise immer die einer Suchenden und in diesem Sinne sollten meine Arbeiten auch gesehen werden, als Produkte unzähliger Ver-suche nach einer äußeren Wirklichkeit, die jedoch erst über den Umweg der nicht-visuellen Wahrnehmung Gestalt annehmen können und auf diese Weise das Innen und das Außen miteinander verbinden (Kein Ergebnis gleicht dem anderen, so wie sich kein Gesicht dem anderen gleicht. Von den vielen Hundert Arbeiten, die bisher entstanden sind kenne ich jedes einzelne meiner Bilder, jedoch kein einziges dieser Porträts).
Das Unmögliche versuchend scheitere ich täglich an meinem Unvermögen und kann doch nicht davon lassen.
Und sitze noch immer hier ... mit der einen Hand Neues erkundend, mit der anderen Hand beschreibend, Eindrücke auf dem Papier zurücklassend, die nun sichtbar machen, wovon ich keine Ahnung hatte. Bin das ich? Und zu welcher Zeit? Bin ich das auch morgen noch...oder in der nächsten Sekunde?
Mein Porträt – Tausend Mal betrachtet - Tausend Mal neu gesehen – Tausend
Mal sofort wieder vergessen.
Eine leere Erinnerung, die suchend den Blick nach innen richtet und auch im
Dunkel nichts finden kann.
So ersetzen die Finger/die Hand meine die Augen und machen sichtbar, was
meiner Erinnerung auf immer verborgen bleibt.


Meine Technik:


Meine Selbstporträts entstehen über den Umweg der Haptik.
Umwege sind spannend, weil sich dadurch neue Möglichkeiten eröffnen können.
Und so beschrieb ich noch einen weiteren Umweg...ich zeichne meine Selbstporträts nicht mehr einfach so aufs Papier, sondern bediene mich der sehr alten Technik der Monotypie.
Ein hölzerner Druckstock, wird mit Kupfertiefdruckfarbe auf Öl Basis gleichmäßig einwalzt. Auf die Ölfarbe wird ein Blatt Papier gelegt und dann "zeichne" ich mein Porträt mit einem Pinselstiel, oder einer Stricknadel auf das Papier.
Wird das Blatt nun von der Ölfarbe abgehoben, ist die Zeichnung spiegelverkehrt zu sehen.


Der Film:


Eines Tages meldete sich bei mir ein Filmemacher, der eines meiner Bilder in der Zeitung gesehen hatte. Valentin Riedl. Er ist Neurologe und Filmemacher und wollte einen Film über mich, die Gesichtsblindheit und meine Kunst drehen.
Nach anfänglichem Zögern willigte ich ein.
Die Dreharbeiten zogen sich über einige Jahre und so kam dieses Jahr 2021,
Ende September, der Film "Lost in Face".


Der Film hat 5 Preise erhalten.



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Carlotta – Bold insight


Reflections of the artist on her life and work


When I was in preschool, I noticed my mother’s special ability...she could recognise people and distinguish them from one another.
I thought, I’m sure I’ll be able to do that someday when I grow up.


But at school, I met a lot of people of the same age, who had already learned to distinguish people from one another.
I didn’t succeed and that repeatedly led to embarrassing situations. I didn’t recognise my classmates in the schoolyard, I didn’t recognise my teachers...


What no one knew at that time...I suffer from face blindness.
Not being able to distinguish and recognise my fellow human beings makes me very insecure when dealing with people. After all, I don’t know who I’m looking at, do I know this person? And if so, how well?
Over the years, I developed a strategy...I memorise, for example, the voice, the stature, the walking and movement patterns, and the very individual noise trail of each person.


This noise trail includes the audible walking pattern, breathing, rustling of clothing, throat clearing, coughing, and so on.
Because I can’t remember faces.
If I’m looking at a face and I am distracted for only a brief moment, once I look again at the face, it’s as if I would see it for the first time.


I know, of course, that the same person is still standing in front of me, but I can’t tell if their face has changed.
This leads to difficulties in social interaction...for example, if I don’t recognise good friends on the street and walk past them without saying hello. If I don’t recognise my employer...or my neigbours...
People, who don’t know about my face blindness might think I’m rude, cranky, reclusive. So I always have to explain that there is something I can’t do...namely recognise them by their faces.


Maybe that’s why the main theme of my work is the self-portrait...due to face blindness, I can’t imagine/remember a face. There is always only the attempt to approach something I can’t fully grasp, an idea, but never an external reality.


So, my definition of a face is different than that of my fellow human beings. For me, a face is something that has a head shape. What happens within this shape is completely irrelevant to me.
I use these irrelevant elements and create the interior space of the portraits completely freely, which ultimately plunges the viewer into the same confused (or alienated) state I experience when I’m with people every day.


So, how do I create my self-portraits?


I approach the topic through haptic experiences (one hand feels the face, the other one simultaneously draws what is felt on paper). This is why each of my works is an attempt at personal integration.
The paradox: I can never succeed in reaching such integration...and that provokes an almost manic way of working.
My way of working always remains that of a seeker and my work should also be seen in this sense; as the product of countless attempts to find an external reality, which, however, can only take shape via a detour of non-visual perception where the in- and outside can connect (no result is like the other, just as no face is like the other. Of the many hundreds of works that have been created so far, I know every single one of my pictures, but not a single portrait of mine).
Trying the impossible, I fail every day because of my inability, and yet I can’t let go.
And I’m still sitting here...exploring new things with one hand and describing these with the other, leaving unknown impressions on the paper that I now make visible. Is this me? And at what time? Will this still be me tomorrow...or in the next second?
My portrait – viewed a thousand times – seen a thousand times anew – immediately forgotten a thousand times.
An empty memory that looks inward and can’t find anything, not even in the dark.
In this way, my fingers/hand replace my eyes and make visible what remains hidden from my memory forever.


My technique:


My self-portraits are created through a haptic detour.
Such detours are exciting because they can open up new possibilities.
And so I began to use another detour...I no longer simply draw my self-portraits on paper but use the very old technique of monotype.
A wooden printing block is evenly covered with oil-based copper gravure printing ink. A sheet of paper is placed on top of the oil paint and then I “draw” my portrait onto the paper with a brush handle or knitting needle.
If the sheet is now lifted from the oil paint, the drawing can be seen mirror-inverted.


The film:


One day, a filmmaker contacted me after seeing one of my pictures in the newspaper. Valentin Riedl. He is a neurologist and filmmaker, and he wanted to make a film about me, face blindness, and my art.
After initial hesitation, I agreed.
The shooting went on for a few years and it was finally released end of September 2021 as “Lost in Face”.


The film received 5 awards.